MAN – individuelle Positionsbestimmung im Schwarm

Ist der Schwarm ein angemessenes Synonym für kollektives Verhalten in Unternehmen? In jedem Fall ist der Erfolg von Schwärmen ein Beispiel für die Sinnhaftigkeit einfachster Regeln und viel Freiraum.  – Aber wo bleibt das Individuum?

Im Spiegel 22/2012 fand ich einen aufregenden Artikel über die Arbeit zweier Wissenschaftler, die belegen konnten, dass es Politik und funktionierende INKLUSIVE, also den Großteil der Bevölkerung integrierende Institutionen sind, die eine Nation nachhaltig erfolgreich machen. Mit anderen Worten: Wir im reichen Norden haben unsere schwarm1Erfolgsstory selbst geschrieben, weil unsere Eliten in der Lage waren (oder hinreichend gezwungen wurden), Privilegien abzugeben. Das hört man doch gerne.
Beide Autoren sind nicht irgendwelche Wissenschaftler. Nein, sie arbeiten am MIT und in Harvard. Da weiß man, was man hat.
Ich war nicht die einzige, die den Wert der Botschaft des Buches erkannte. „Warum Nationen Scheitern“ von D. Acemoglu und J. A. Robinson ist ein Bestseller.

Das Buch wurde mit großer Detailkenntnis und großer Unschärfe aus nordamerikanischer Sicht verfasst.
Es nimmt keine extreme Position ein, behauptet nichts Spektakuläres und ist extrem erfolgreich.
Das Geheimnis: elitäre Wissenschaftler belegen, was MAN glauben will.

Ich behaupte, hätten sie etwas Unbequemeres bewiesen, wäre ihr Buch wahrscheinlich kaum gelesen worden.

Hier wirkt die „Diktatur der Selbstverständlichkeit“ wie Heidegger die Macht der Gewohnheit in seinem Klassiker „Sein und Zeit“ nennt. Ich befinde mich als nord-westliche Leserin in der Rolle der Jeder-MAN und bediene mich selbst mit „Sinnkontinuität“, finde Bestätigung in meinen Wertesystemen und entlaste damit meine Sinn-Orientierung. Ich lese, was ich hören will.
Das ist bequem. Das verbindet mich mit anderen. Das macht mich also auch mächtig, denn ich gehöre einer starken Gemeinschaft an.

Experimente wie das zur „Unaufmerksamkeitsblindheit“ bestätigen: Was man nicht erwartet, hat es schwer gesehen zu werden.
Umgekehrt: was wir erwarten, sehen wir. – Und da ist es wieder: das WIR, das sich auf ein JEDERMAN bezieht und eigentlich nur einen größeren Anteil der Menschen in unserem Umfeld meint.

schwarm2Ich bin ein Gutmensch. Deshalb lese ich begeistert von Experimenten, die belegen, dass bessere Arbeitsbedingungen sich auf die Produktivität auswirkten und von solchen, die belegen, dass der Mensch schon als Kleinkind in Unterscheidung zum Affen ein soziales Wesen ist, das sich um das Wohlergehen seines Gegenübers sorgt.

Jedes dieser berühmten Experimente wird auch kritisiert. Ungenauigkeiten im Versuchsaufbau oder in den Rückschlüssen. Aber woran soll man sich denn halten, wenn unser wunderbares System der wissenschaftlichen Belegung jedermänlichen Denkens nicht mehr funktioniert?

Und vor allem: sie funktionieren ja im Großen und Ganzen doch. Jedes Experiment, das kritisiert wird, wird nicht als Ganzes in Frage gestellt. Es geht meist um Details.
Was das erwähnte Buch der beiden Amerikaner betrifft, bezweifle ich die objektive Betrachtungsweise der Autoren, weil sie gleich im Vorwort die Zerstörung Deutschlands im 2. Weltkrieg, ohne es explizit zu behaupten, rhetorisch ausschließlich den Russen zuschreiben.

Die mühsame Suche nach individueller Orientierung wird dann zur Plage, wenn Details den Blick auf das Ganze verstellen. Der allzu kritische Blick lässt Zusammengehörigkeiten zerfallen. Jede Gemeinschaft benötigt aber Toleranz, Abstand der Individuen voneinander und gemeinsame Regeln, die grob genug sind, dass sie a) jeder einhalten kann und es b) es nicht so schlimm ist, wenn sie von einer Minderheit nicht eingehalten werden.

Wer eine Corporate Culture steuern will, das heißt sie nicht einfach wachsen lässt oder Änderungen herbeiführen muss, um erfolgreicher zu werden, darf nie vergessen, dass er selbst ein Subjekt ist, das es mit Individuen zu tun hat: erwachsenen, selbstbestimmten Menschen, deren Wohl und Wehe zu mehr als 1/3 jeden Tages in der Gemeinschaft liegen und deren Rahmenbedingungen die Firmen schaffen. Es ist egal, wie groß die Firma ist. Entscheidend ist der Respekt, den die Menschen innerhalb der Arbeitsumgebung und vor allem die Führungsriege für die einzelnen Individuen verspüren. Dieser Respekt betrifft vor allem die individuellen Abweichungen vom MAN.

schwarm3Die meisten individuellen Abweichungen werden von der Mehrheit – dem Schwarm – aufgefangen. Sie sind im Großen und Ganzen irrelevant. Aber es kann auch dazu kommen, dass sich daraus Richtungsänderungen der Gesamtheit ergeben.
Begegnet man den Abweichungen mit Respekt, ist man vielleicht in der Lage zu bemerken, dass es sich um keine bösartigen und völlig idiotischen Abweichungen handelt. Jedes Verhalten hat seinen Grund. Beobachtet man diese Abweichungen und lernt daraus, Hindernisse zu erkennen und auf sie zu reagieren, kann das zu einem Vorteil für alle sein.

Die Kultur einer Firma zum Beispiel kann man vergleichen mit dem parasympathischen Nervensystem. Die Kultur bestimmt alle unbewussten (nicht explizit definierten Prozesse) und reflexartigen  Handlungen (z. B. definierte Prozesse).
Es gibt sehr hochentwickelte, große Organismen und sehr kleine; aber bei allen gibt es diese Form der „parasympathischen“ Entscheidung.

Jedes System IST nicht einfach, sondern erneuert sich ständig. Es ist stets im Werden begriffen, ob es will oder nicht; denn es besteht seinerseits aus lebendigen Organismen. In unserem Fall einem Schwarm an individuell kulturell geprägten Geistern, deren Schnittmenge das MAN des Systems ausmachen.

In jedem Schwarm schwimmen in der Mitte vorne irgendwo die Meinungsmacher, die Richtungsgeber, vor ihnen noch die Vordenker, die bereit sind für das durch Feuer und Wasser zu gehen, von dem sie überzeugt sind. Hinter dem Meinungsmacher befinden sich die, die gerne im Schatten bleiben, dahinter die Bremser, links die, die von der allgemeinen Meinung eben links abweichen, und rechts die, die eben rechts Platz gefunden haben. Aber im stetigen Metabolismus der Zeit wechseln sie die Positionen. Einige werden von Vorreitern zu Bremsern und einige werden von Mitschwimmern zu Meinungsmachern, wenn sich der Schwerpunkt des Schwarms ändert.

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