Von der Wahrnehmenung der Gelegenheit

Auszüge aus „Andere Zeiten“. Der Zeitbegriff im Orient im Vergleich zum Okzident von Arne Klawitter als Podcast oder Text

Für uns, die wir der abendländischen Kultur entstammen, bildet die Zeit so etwas wie eine umfassende Hülle, die unser physikalisches und metaphysisches Denken umspannt.
Ganz anders verhält es sich im Denken des alten China. Dort wurde etwas gedacht, was in der europäischen Philosophie weitgehend vernachlässigt wurde:
der jahreszeitliche Moment, der Übergang und die Dauer im Sinne des Verlaufs eines Prozesses. Was in unserem Denken nur mit relativ „schwachen“ Begriffen konzeptualisiert wurde, hat man in China ins Zentrum der Reflexion gestellt: die Opportunität und die Disponibilität. Für unsere „umfassende Hülle“ aber hat sich das chinesische Denken nicht weiter interessiert.

Die chinesische Zeitvorstellung könnte uns eine Möglichkeit bieten, die erstarrte Vertrautheit, mit der wir die Zeit fixieren, aufzubrechen.

Für die alten Chinesen stand fest, dass die Zeit niemals gleichlange Zeitperioden umfasst. Vor allem aber vereint der aus der Bedeutung der Jahreszeiten geprägte Zeitbegriff (si shi) „Dauer“ (si) und „Gelegenheit“ (shí).

JI - Die Günstige...

Nach chinesischer Auffassung gibt es günstige oder ungünstige Gelegenheiten, die rhythmisch schwanken und sich abwechseln. Die günstige Gelegenheit (shi ji) ergibt sich in einem bestimmten Moment aus einer im Fluss befindlichen Konstellation von Situationsmöglichkeiten.

In Europa wird ein Ereignis meist als die Folge des Handelns eines Subjekts gesehen. In der chinesischen Kultur dagegen kommt es darauf an, sich mit dem bereits begonnenen Ablauf zu „vereinen“. Man hält sich die Möglichkeiten solange offen, bis der günstige Augenblick gekommen und in der kontinuierlichen Transformation der Dinge sichtbar geworden ist.
Während man im Abendland seit der griechischen Antike die Bewegung im Gegensatz zur Ruhe als absolute Ortsveränderung von stofflicher Materie auffasst, denkt man in China die Bewegung in erster Linie als Wandel, als eine qualitative Veränderung, die die Verwobenheit der Dinge einerseits und deren Situationspotential andererseits betrifft.
Für das chinesische Denken birgt jede Situation eine Möglichkeit in sich.
Dieser Umstand macht das chinesische Denken so empfänglich für die Opportunität, d.h. man ist bestrebt, sich dem Lauf der Dinge anzupassen und aus dieser Anpassung ein Potential zu ziehen. Es darf nicht verschwiegen werden, dass die Strategie, den Gegebenheiten des Moments zu folgen und sich vom Lauf der Dinge tragen zu lassen, zwei Probleme aufwirft. Es handelt sich dabei um ein moralisches und um ein strategisches Problem: Zum einen darf das „Folgen der Tendenz“ nicht bedeuten, dass man sich hingibt, sich mitreißen lässt und in Passivität verharrt. Es bedarf vielmehr einer inneren Strenge, weil sonst die Opportunität zum Opportunismus wird. Zum anderen stellt sich die Frage, wie Erfolg zu planen ist.

In der unterschiedlichen Auffassung der Gelegenheit liegt einer der wesentlichen Differenzen zwischen der abendländischen und der chinesischen Anschauung von Transformation. In China wird die Gelegenheit als momentan sichtbares Auftauchen innerhalb einer kontinuierlichen Transformation betrachtet (vgl. Jullien 1999: 113).

Seit der griechischen Antike verfolgt das abendländische Denken dagegen das Ziel, die Gelegenheit zu kalkulieren und durch Regelsysteme vorherzubestimmen.

SHI - ....Gelegenheit

Das Ziel des chinesischen Denkens ist es, sich in den Ablauf, d.h. In den Lauf der Dinge (shi) zu integrieren. Ein solches Denken privilegiert die Reflexion der jeweiligen Situation und der Umstände, ohne dass notwendig nach deren zugrunde liegenden Regeln und Gesetzen gefragt wird. Wenn man für den Moment empfänglich ist und der Tendenz (shi) folgt, so die chinesische Vorstellung, dann braucht man nicht mehr die Initiative zu ergreifen und zu handeln. Wer den Moment erreicht hat, so heißt es in einem Kommentar zum Buch der Wandlungen, der braucht nicht mehr zu handeln und sich anzustrengen. Den Moment erreichen bedeutet folglich nicht, sich seiner zu bemächtigen oder ihn zu „ergreifen“, sondern mit ihm in Übereinstimmung zu gelangen oder mit ihm „phasengleich“ zu sein.

Sowohl das christliche als auch das säkularisierte Denken der Moderne haben die Tendenz, der gegenwärtigen Zeit stets voraus sein zu wollen, indem sie die Zukunft antizipieren. Heidegger analysierte diesen Zusammenhang in der
Daseinsform der Sorge. Der westliche Mensch ist mit seiner Sorge der Gegenwart immer schon vorweg. (Heidegger 1979: 235 ff., Heidegger 1989: 22ff.)

Ein weiteres Charakteristikum der abendländischen Zeitkonzeption ist die Neigung, sich einen zeitlichen Verlauf in Extremitäten vorzustellen. Die Zeit nach dem Höhepunkt bedeutet für das abendländische Denken bereits den Beginn einer Krise. In China dagegen hat man es verstanden, auch das, was nach dem Höhepunkt kommt, in seiner Eigenheit zu würdigen und es nicht zum Vorboten einer unausweichlichen Krise zu machen. Nach dem Prinzip von yin und yang nimmt man eine gegenseitige Bedingtheit zweier Zustände an und verfolgt die jeweilige Modifizierung, die man zugleich als Fortsetzung begreift.
Das Eine muss sich zwangsläufig dem Anderen öffnen und sich zurücknehmen damit sich das Andere ausbilden kann. Erst dieser Rückzug des Einen macht das Andere als das Neue möglich; Rückzug (des Einen) bedeutet zugleich Aufschwung (des Anderen).

 

Der Autor Arne Klawitter ist Literaturwissenschaftler und Philosoph. Er lebte fünf Jahr in China und ist derzeit als außerordentlicher Professor an der Universität Kyoto tätig. Er beschäftigt sich insbesondere mit vergleichender Ästhetik und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen wie die Wahrnehmung von Zeichen, Körper, Raum und Zeit. Habilitation an der Uni Münster zur Ästhetik der Resonanz. Im April 2013 übernimmt er eine Professur an der Waseda-Universität in Tokyo.

 

Gekürzter Artikel aus: Chronotopographien: Agency in ZeitRäumen,
Britta Krause (Herausgeber), Dietmar Fricke (Herausgeber), Nina Pippart (Herausgeber), Tania Meyer (Herausgeber), erschienen bei Peter Lang 2006

http://www.amazon.de/Chronotopographien-Agency-ZeitRäumen-Britta-Krause/dp/toc/3631555865

Kürzung von E. Göhring

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