Ein Leben für den guten Journalismus

Interview mit Jay Tuck über die Unternehmenskultur bei der ARD

Das Cafe, in dem ich mit Jay verabredet bin, ist geschlossen. Der Morgen ist grau und eisig. Eigentlich wollte ich das Interview verschieben, aber das passte Jay nicht wegen Thanksgiving. Für den gebürtigen New Yorker ist das trotz mehr als 40 Jahren Jahren in Deutschland immer noch ein wichtiger Feiertag.

Wir entscheiden uns für eine nette Bäckerei in der szenischsten Ecke Hamburgs. Dort gibt es Brot-, Kuchen- und Torten-Theke im alten Stil. Schrullig, gar nicht szenisch und absolut gemütlich.

In den letzten fünf Jahren produziert Jay Tuck für Al Jazeera eine Technologie-Sendung, die durch das Hereinbrechen des arabischen Frühlings aus dem Programm gedrängt wurde. Als ich anmerke, dass doch aus dem Frühling mittlerweile ein Sommer geworden ist, komme ich mir plötzlich sehr dumm vor.

Jay Tuck

Schnell das Thema wechseln! Nicht mit so einem über Politik reden!

Jay Tuck begann seine journalistische Karriere bevor er nach Deutschland kam bei CBS News in New York. Später arbeitete er beim Hamburg Journal, als investigativer Reporter bei Panorama und Monitor, als Kriegskorrespondent im Golfkrieg und dann als leitender Redakteur der ARD-Tagesthemen.

Ich interessiere mich für seine Sicht auf die Corporate Culture der ARD.

„Zum einen“, beginnt er, „ist die ARD mit ihren 23000 Leuten ein bedeutendes Unternehmen und ein wichtiger Arbeitgeber. Da braucht man klare Regeln, damit die Arbeitsteilung funktioniert. Die Gewerkschaft hat bei der ARD eine starke Tradition. Bezahlt wird nach Dienstjahren und Betriebszugehörigkeit und nicht nach Leistung. Die Arbeitsplätze sind sicher. “

Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild eines großen, grauen, etwas altmodischen Bürogebäudes aus Beton, Stahl und Glas. Schlicht, stabil, ehrlich und grau.

„Andererseits,“ fährt Jay fort, „ist die ARD ein Kreativ-Unternehmen. Da arbeiten Kameraleute, Cutter, Bühnenbildner, Beleuchter, Tonmeister, Fotografen, Regisseure, Musiker, Autoren und Journalisten… Die Regeln der Kreativarbeit sind andere als die der Bürokratie. Oft ist der Output nicht so planbar wie es die Regeln der Arbeitsteilung fordern. Der Laden tut sich schwer damit, Unvorhergesehenes einzuordnen.

Die technischen Möglichkeiten entwickeln sich zum Beispiel viel schneller als Beschaffungsanträge entschieden werden. Die Folge: Es werden Geräte gekauft, die bereits bei ihrer Anschaffung veraltet sind. Außerdem mischen bei jeder Neuerung ziemlich viele mit.“

Das Haus vor meinem inneren Auge wackelt und vibriert. Bunte Vögel flattern aus den sich öffnenden Spiegelglasfenstern…

Jay kommt jetzt in Fahrt:

„Als zum Beispiel Computer eingeführt wurden, setzten die Gewerkschaften durch, dass sämtliche Lampen ausgetauscht wurden. Angeblich schadete nämlich das normale Glühlampenlicht den Nutzern von Computermonitoren. Handwerker zogen in einer groß angelegten Aktion durch die Redaktionen und machten sich an jedem Tisch und in jedem Raum zu schaffen. – Es dauerte aber nicht lange, da verschwanden die neuen „gesunden“ Neon-Lampen und wurden in einer nicht ganz so groß angelegten Aktion gegen die alten Glühlampen wieder ausgetauscht. Man, oder besser gesagt Frau, fand es so vorteilhafter für den Teint.“

...hat gut lachen

Ich lächle über die komische Szene und spare mir gekünstelte Empörung über die Verschwendung der öffentlichen Gebühren. – Schließlich weiß ich, dass nach dem damaligen Stand der Wissenschaft und Technik die Forderung nach Neon-Lampen korrekt war. Andererseits fällt es mir auch nicht schwer nachzuvollziehen, dass man lieber EVENTUELLE Augenschäden, die IRGENDWANN auftreten KÖNNTEN, in Kauf nimmt, um dafür JETZT gut auszusehen.

„Was für Auswirkungen hat die öffentliche Finanzierung?“, frage ich also scheinheilig und bin über die Ernsthaftigkeit der Antwort fast überrascht:

„Man muss sich nicht immer wieder neu erfinden, um gewisse Quoten zu erfüllen. Statt dessen orientiert man sich an der selbst gestellten Forderung, eine gleichbleibend gute, ja sogar maßgebliche Qualität zu liefern.
Bei den Tagesthemen zum Beispiel zieht man aus dem Privileg der finanziellen Sicherheit die Verpflichtung, als Hüter des „guten“ Journalismus zu fungieren.
Andererseits verhindert die Sicherheit auch ab und zu kritische Selbstprüfung. Manche Themen – wie zum Beispiel die technologischen Entwicklungen – werden regelrecht verschlafen.“

Mich interessiert, wie überhaupt Themen-Entscheidungen bei den Tagesthemen gefällt werden. Hat die Politik oder Wirtschaft ihre Finger mit im Spiel? Wird ausdiskutiert oder bestimmt?

„Diskutiert schon, manchmal auch heftig. Aber es wird nicht ausdiskutiert. Dafür ist in einer aktuellen News-Redaktion keine Zeit. Klar gibt es Versuche von außen, die Sendung zu beeinflussen. Es ist ein hartes Geschäft. Bei jeder Tagesthemen-Sendungen gibt es gut 40 bis 50 mögliche Themen. Nur fünf oder sechs kommen am Ende in die Sendung.
Konsens wird nach professionellen Kriterien gesucht. – Wer ist der Autor? Haben wir Bilder? Welche andere Themen haben wir?
Oft spielen aber auch andere Kriterien mit hinein. Die Chemie der Mannschaft oder das Gewicht der Sender zum Beispiel. Es ist aber unmöglich, ein Thema aus politischen Gründen zu unterdrücken, da alle Lager vertreten sind. Keiner hält hinterm Berg.
Im Konfliktfall entscheidet der Chefredakteur, aber die Komplexität der Entscheidungskriterien verhindern eine dauerhaft gezielte Manipulation.

„Wer kontrolliert die Qualität?“, frage ich.

„Dem öffentlich-rechtlichen Journalisten schauen viele auf die Finger: Zuschauer, Aufsichtsgremien, Interessengruppen, Kritiker in den Printmedien, um nur ein paar zu nennen. Außerdem finden die Sendungen nicht in einem Vakuum statt. Chefredakteure schauen ständig auf die anderen Medien, um zu sehen, ob sie mit ihrer Berichterstattung und Themenauswahl im Trend liegen. Das ist freiwillige Selbstkontrolle im besten Sinne. Die eigenen Ansprüche an einen der Öffentlichkeit dienenden Journalismus sind hoch.“

Was fällt Dir zum Stichwort „Zeit“ ein?“

„Zeit spielt eine große Rolle: Wir hatten einen Arbeitstag von mindestens 12 Stunden. Acht Tage hintereinander. Dann gab es sechs Tage frei. Zum Ende der acht Arbeitstage stieg die Anspannung. Es wurde viel gestritten.
Noch während der Sendung kann etwas passieren, das mit rein muss. Da ist man ganz schön unter Strom. Nach jeder Sendung dauert es eine Weile bis man wieder unten ist.
Andere Redaktionen und Ressorts wie zum Beispiel Kultur können da natürlich viel ruhiger agieren.“

Entwickelt man Vorurteile gegenüber denen, bei denen die Uhren anders ticken?“

Jay lacht und schießt los:

„Na klar! Über jeden gibt es was zu lästern! Aber am stärksten sind die Vorurteile gegenüber der Nine-To-Five-Verwaltung, denn da tritt das gegenseitige Unverständnis zwischen Kreativen und Organisatoren manchmal krass zu Tage.“

Jay illustriert:

„Ich war im Golfkrieg auf einem Flugzeugträger „eingebettet“. Das bedeutet, ich teilte mir „mein Schlafzimmer“ mit 400 Mann. – Direkt über meiner Koje landeten die Jets mit ohrenbetäubendem Getöse.
Der Raum für uns Journalisten war eine Stahlkammer, in der wir es zu ging wie im Bienenschwarm. Ich habe meine Texte unter einer Decke gesprochen, die als Schalldämmung herhalten musste.
Als ich zurückkam, hatte ich natürlich keine Restaurant- oder Hotelrechnungen. Deshalb nahm man zur Verrechnung meiner Reise kurzerhand den „Kreuzfahrt-Tarif“, der mir den mickrigsten Spesensatz bescherte. Die Verwaltung kannte den Unterschied zwischen Luxusdampfer mit allabendlichem Champagner und einem Kriegsschiff im Einsatz nicht. Also gab es auch keinen.“

Wie war das, als Du aus dem Krieg zurück kamst?“, will ich wissen. „Hattest Du Zeit, Dich zu erholen und krasse Erlebnisse zu verarbeiten?“

Jay schüttelt den Kopf:

„Es gibt, wie gesagt, keinen verwalterischen Unterschied zwischen Kriegseinsatz- und Traumschiff-Reportage. Es geht sofort weiter mit dem Tagesgeschäft. Ich saß am Tag nach meiner Heimkehr aus dem Krieg mit den Eindrücken fürchterlicher Szenen an meinem Schreibtisch im Großraumbüro, als hätte ich das alles nur gesehen und nicht erlebt.“

„Bei den Tagesthemen vermitteln die Moderatoren den Eindruck, als hätten sie das, über das berichtet wird, erlebt. Wie stehst Du zu dem Starkult, der um die Moderatoren betrieben wird?“

„Natürlich avancieren die meisten Moderatoren mit der Zeit zu Stars. Nach außen hin sind sie die Tagesthemen. Mit der Zeit verliert sich dadurch auch manchmal leider die Teamzugehörigkeit nach innen. Einige, nicht alle, entwickelten regelrecht Allüren. – Die Vergrößerung eines Moderatorenbüros wurde zum Beispiel von den Geldern für die Wandgestaltung der gesamten Redaktion finanziert. Das ist bezeichnend.“

Ich frage Jay nach Legenden. Natürlich suche ich nach solchen Geschichten, die Werte in der Corporate Culture illustrieren oder transportieren. Aber Jay, dem Mann der Tatsachen, fällt dazu zwar viel ein, aber nichts, was seiner Meinung nach wert wäre, erzählt zu werden.

Er sei Journalist und kein Märchenonkel. Punkt.

Die schwangere Bedienung schenkt Kaffee nach.
Bei Jay kann Kaffee nicht kalt werden. Das ist schon seinen dritte Tasse.

Mir qualmen die Finger vom mitschreiben. Ich fühle mich wie nach einer Reise.

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